Zwischen Fantasie und Realität

Die Realität muss grösser sein als die Fantasie…

 

Diesen Satz hörte ich vorgestern von einer Frau, mit der ich ein Gespräch führte. Sie sagte zu mir: „Deine Fantasie ist grösser als deine Realität.“ Das war ihre Reaktion, als ich ihr von meinen Zielen erzählte. Da sie eine ältere Dame war, nahm ich ihre Worte ernst und bedankte mich. Doch ihre Aussage liess mich nicht mehr los. Immer wieder dachte ich darüber nach und fragte mich: Inwiefern könnte sie recht haben?

 

Wir leben zumindest glauben wir das in einer Zeit des Erwachens. Wir dürfen, ja wir müssen träumen, manifestieren, fokussiert sein und mehr denn je an uns glauben. Wir stehen im Zentrum unseres Lebens, und alles geschieht für uns, nicht gegen uns so heisst es. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hatten wir so viele Möglichkeiten wie heute. Und noch nie zuvor sind Stereotypen so stark zerbrochen wie jetzt. Jeder kann alles sein in jedem Alter und aus jeder Ecke dieser Welt.

 

Zum Beispiel träumen Kinder heute von einer Karriere in den sozialen Medien und beginnen bereits mit zehn zu streamen. Andere, mitten in der Pubertät, träumen vom grossen Geld, wollen Millionäre werden. Wieder andere praktizieren Pornografie aus dem Kinderzimmer heraus und sind stolz darauf, damit genauso viel zu verdienen wie ein studierter Oberarzt nach jahrzehntelangem Studium und Schichtarbeit. Es scheint, als sei heute alles möglich und alles nur eine Frage des Willens. Wenn man etwas wirklich will, so sehr davon träumt, zieht man es unweigerlich ins eigene Leben. Alles beginnt mit einer Idee das ist die Botschaft hinter jeder grossen Kampagne, die eine neue Marke lanciert.

 

Und dann höre ich diese Aussage: „Deine Realität muss grösser sein als deine Fantasie.“ Ein Schlag ins Gesicht. Ein Ruf zur Rückkehr auf den Boden der Tatsachen. Ein Satz, der zum Nachdenken anregt. Ich habe lange geglaubt, meine Träume und Ziele seien wertvoller als meine Realität denn diese liegt oft meilenweit entfernt von dem Leben, das in meiner Fantasie existiert. Doch nach einigem Nachdenken wurde mir klar: Wie bei allem im Leben ist es die goldene Mitte, die zählt.

 

Zwischen Fantasie und Realität darf keine zu grosse Kluft entstehen. Man sollte sich nicht zu sehr auf die eine Seite stützen und die andere vernachlässigen. Wer zu sehr in der Realität verhaftet ist, wird schnell bitter oder pessimistisch. Wer sich hingegen zu lange in der Fantasie verliert, kann bequem und kraftlos werden. Also: Nicht zu realistisch, aber auch nicht zu verträumt. Doch wie soll das gehen in einer Zeit, in der uns ständig suggeriert wird, wir sollten unsere eigene Realität erschaffen und uns nicht mit dem Bestehenden zufriedengeben?

 

Meine persönliche Meinung: Niemand sollte uns vorschreiben, ob wir mehr in der Fantasie oder mehr in der Realität leben sollen. Es hängt davon ab, in welcher Lebensphase wir uns gerade befinden. Manchmal ist es heilsamer, in der Fantasie zu schwelgen, sich eine neue Welt auszumalen eine, die wir dann Schritt für Schritt in die Realität holen. Und manchmal ist es hilfreicher, fest in der Realität verankert zu bleiben, um unsere Defizite zu erkennen und die Dinge anzugehen, die uns daran hindern, unser bestes Leben zu leben.